Research

"Selektive Solidarität" - Update 13.02.2024

A few months ago, we began an - initially internal - discussion process about our research and documentation work. At the heart of this process is the question of how meaningful it is to restrict our work to the deaths of racialized people. We present the status of our reflections in a longer text that was published in the daily newspaper junge Welt in mid-February. We welcome feedback, criticism and comments to our e-mail address death-in-custody@riseup.net

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Aus: junge Welt, Ausgabe vom 13.02.2024, Seite 12 / Thema
https://www.jungewelt.de/artikel/469189.tödliche-polizeigewalt-selektive-solidarität.html

Selektive Solidarität

Wer bei den Opfern von tödlicher Polizeigewalt nur nach rassistischer Diskriminierung fragt, verliert die Armut aus dem Blick. Eine Reflexion

Von Lotta Maier

Seit Mitte Dezember 2023 wird vor dem Dortmunder Landgericht über die Schuld von fünf Polizistinnen und Polizisten verhandelt. Sie waren mit weiteren Kollegen am 8. August 2022 an einem Einsatz beteiligt, der für den 16jährigen Mouhamed Lamine Dramé tödlich endete. Der junge Geflüchtete aus dem Senegal war mit mehreren Polizeischüssen regelrecht hingerichtet worden. Sein Tod hatte bundesweit für Aufsehen gesorgt. Zu dem Polizeieinsatz kam es, weil Mouhamed Dramé mit einem Messer im Hof der Dortmunder Jugendeinrichtung saß, in der er erst seit wenigen Tagen untergebracht war. Sein Betreuer befürchtete, er könne sich selbst verletzen und verständigte deshalb die Polizei. Wie so oft beruhigten die herbeigerufenen Beamten die Lage nicht, sondern eskalierten sie. Sie griffen Mouhamed Dramé mit Pfefferspray und Tasern an und erschossen ihn schlussendlich mit einer Maschinenpistole.

Mouhamed Dramé war nicht das einzige Todesopfer von Polizeigewalt in jener ersten Augustwoche 2022: In Frankfurt am Main töteten am 2. August Beamte eines Sondereinsatzkommandos Amin F. aus Somalia mit einem Kopfschuss. Zuvor soll er zwei Sexarbeiterinnen in einem Hotelzimmer mit einem Messer bedroht haben. Diese hatten sich allerdings bereits der Situation entzogen, bevor das SEK anrückte. Als Amin F. erschossen wurde, stellte er keine Bedrohung für Dritte mehr dar. Am 3. August erschoss die Kölner Polizei den aus Russland stammenden Straßenmusiker Jozef Berditchevski. Die Beamten waren angerückt, um ihn aus seiner Wohnung im Stadtteil Ostheim zu räumen. Am 7. August starb ein Mann, dessen Name nicht öffentlich bekannt ist, im nordrhein-westfälischen Oer-Erkenschwick infolge eines Polizeieinsatzes. Der 39jährige soll zuvor in seiner Wohnung »randaliert« haben. Die Polizei hat nach eigener Darstellung Pfefferspray gegen ihn eingesetzt und ihn gefesselt. Dann soll er »plötzlich« das Bewusstsein verloren haben. Später starb er im Krankenhaus.

Ungleiche Aufmerksamkeit

Vier Fälle tödlicher Polizeigewalt in einer Woche - doch lediglich im Fall von Mouhamed Dramé kam es zu einem Gerichtsverfahren. Auch die öffentliche Wahrnehmung dieser vier Fälle unterscheidet sich stark. Über Mouhamed Dramé wurde und wird wiederholt in überregionalen Medien berichtet, sein Tod löste öffentliche Empörung und eine Diskussion über rassistische Polizeigewalt aus. Bei Jozef Berditchevski und Armin F. fiel die Berichterstattung deutlich geringer aus. Allerdings sind ihre Namen bekannt und es ist möglich, mittels einer einfachen Recherche mehr über ihr Leben und ihre Todesumstände zu erfahren. Von der vierten Person - dem Todesfall am 7. August 2022 in Oer-Erkenschwick - ist bis heute nichts Näheres bekannt. Dieser Todesfall blieb unterhalb der öffentlichen Wahrnehmungsschwelle und ist mittlerweile weitgehend in Vergessenheit geraten.

Es gibt mehrere Gründe dafür, dass der Fall Mouhamed Dramé so viel mehr Aufmerksamkeit erregte als die anderen drei Fälle. Die Umstände, unter denen er erschossen wurde, sind besonders drastisch. Er war »fast noch ein Kind«, wie ein Nachbar der Jugendhilfeeinrichtung in Dortmund in der Taz zitiert wird.¹ Er war ohne seine Eltern nach Europa geflüchtet. Vor seinem Tod befand Mouhamed Dramé sich in einer akuten psychischen Krise. Er stellte allenfalls eine Gefahr für sich selbst, nicht aber für andere dar. Der tödliche Polizeieinsatz gegen ihn erscheint vor diesem Hintergrund besonders empörend - im Unterschied zu weniger eindeutigen Fällen, in denen Getötete etwa Gewalt gegen Dritte ausgeübt oder sich mit einer Waffe gegen die Polizei gewehrt haben. Auch dass sich schnell die Initiative »Solidaritätskreis Justice 4 Mouhamed« gebildet hat, die regelmäßig mit Kundgebungen und Veranstaltungen auf den tödlichen Polizeieinsatz aufmerksam macht, hat dazu beigetragen, dass dieser Fall im öffentlichen Gedächtnis geblieben ist. Es steht jedoch zu vermuten, dass sich hinter der unterschiedlichen Verteilung von Aufmerksamkeit noch mehr verbirgt.

Seit 2019 recherchieren wir Todesfälle von rassifizierten Menschen in Gewahrsam und durch Polizeigewalt in der BRD seit 1990. Diese dokumentieren wir auf der Homepage doku.deathincustody.info. Wir waren als Recherche-AG Teil der Kampagne »Death in Custody - Aufklärung der Todesumstände in Gewahrsam jetzt!«, die von 2019 bis 2021 auf Todesfälle von rassifizierten Menschen durch Polizeigewalt und im Knastsystem aufmerksam gemacht hat. Nach dem Ende der Kampagne setzten wir die Recherchearbeit fort.

Auch in unserer Dokumentation spiegelt sich das skizzierte Aufmerksamkeitsgefälle wider: Der Artikel über Mouhamed Dramé ist einer der ausführlichsten und wird regelmäßig aktualisiert. Amin F. und Jozef Berditchevski haben jeweils eigene - etwas kürzere - Einträge. Den vierten Todesfall haben wir nicht erfasst, weil die getötete Person nach unseren bisherigen Erkenntnissen nicht von Rassismus betroffen war. Auch wir beteiligen uns also an diesem Unsichtbarmachen, auch in unserer Dokumentation verschwindet der vierte Tote. Warum?

Dies wollen wir im Folgenden selbstkritisch analysieren. Wir argumentieren, dass es ursprünglich gute Gründe für die Entscheidung gab, Rassismus im Aktivismus gegen Polizeigewalt und Knastsystem in den Mittelpunkt zu stellen, dass es aber heute angebracht ist, diesen Fokus zu überdenken. Die einzige Person in der Kampagne und Recherche-AG mit Betroffenheitsperspektive, deren nächster Angehöriger in deutschem Gewahrsam getötet wurde, hatte von Beginn an die Engführung auf Todesfälle rassifizierter Menschen kritisiert, fand aber zunächst unzureichend Gehör.

Unsere Vorgehensweise entstand aus der wahrgenommenen Notwendigkeit, der verbreiteten Behauptung zu widersprechen, dass es in der BRD im Unterschied zu Ländern wie den USA keinen institutionellen Rassismus in Polizei und Knastsystem gebe, und diesen Widerspruch mit recherchierten Fakten zu untermauern.

Staatliche Gewalt und Rassismus

Anders als in den USA oder Großbritannien wird in der BRD nicht statistisch erfasst, zu welchem Anteil von der Polizei getötete Menschen rassifiziert sind. Mehr noch: Es wird überhaupt nicht behördlich festgehalten, wie viele Menschen in deutschem Gewahrsam sterben. Es lässt sich also nicht statistisch belegen, in welchem Ausmaß unterschiedliche Bevölkerungsgruppen in Deutschland von tödlicher Staatsgewalt betroffen sind. Dennoch ist davon auszugehen, dass Polizeischikanen und staatliche Gewalt sich auch hierzulande überproportional gegen migrantische und rassifizierte Personen richten. Dies ergibt sich schon aus den Aufgaben der Polizei. Dazu gehört, nach Personen ohne legalen Aufenthaltsstatus zu fahnden, was zur Folge hat, dass Beamte überdurchschnittlich häufig Menschen kontrollieren, die ihnen aufgrund äußerer Merkmale als »nicht deutsch« erscheinen. Zudem gibt es mit der Abschiebehaft eine Inhaftierungsform, in der nur Menschen ohne deutschen Pass festgehalten werden. Diese Überrepräsentation spiegelt sich auch in den zu Beginn geschilderten Todesfällen wider: Drei der vier getöteten Personen waren Migranten, davon waren zwei schwarz - was nicht ihrem statistischen Anteil in der Gesamtbevölkerung entspricht.

Das Fehlen offizieller Daten zu rassistischer Polizeigewalt und Todesfällen im Gefängnis war ein wesentlicher Ausgangspunkt unsere Recherche. Eine vergleichende Recherche zu allen Todesfällen im Zusammenhang mit Polizeigewalt und Gewahrsam in der BRD hätte die Kapazitäten unserer ehrenamtlichen Tätigkeit bei weitem gesprengt. Unter anderem deshalb entschieden wir, uns auf die Dokumentation von Todesfällen rassifizierter Personen zu beschränken. So ist es zwar nicht möglich, unterschiedliche Betroffenheiten zahlenmäßig abzubilden. Die Recherche ist aber geeignet zu illustrieren, wie kontinuierlich auch in der BRD rassifizierte Menschen durch staatliche Gewalt ums Leben kommen. Mit dieser Form der Dokumentationsarbeit knüpften wir an Strategien anderer antirassistischer Gruppen an. Zum Beispiel hatte die Antirassistische Initiative aus Berlin seit den frühen 1990er Jahren die tödlichen Folgen der bundesdeutschen Flüchtlingspolitik dokumentiert, das Londoner Institute of Race Relations untersucht seit mehreren Jahrzehnten rassistische Staatsgewalt in Großbritannien. Ziel solcher Dokumentationen ist es, dem staatlichen Narrativ der Kriminalisierung die Perspektive der Betroffenen und ihrer Angehörigen entgegenzustellen. Sie ermöglichen es ferner, Muster zu erkennen und zu analysieren, unter welchen Umständen rassifizierte Menschen typischerweise durch staatliche Institutionen getötet werden.

Diese Art der Arbeit erscheint uns weiterhin sinnvoll und gewinnbringend. Allerdings kamen im Laufe der Zeit vermehrt Zweifel an der Entscheidung auf, Todesfälle von Personen, die nicht von Rassismus betroffen sind, aus der Dokumentation auszuschließen.

Gemeinsamkeiten von Getöteten

Das war in erster Linie eine Folge praktischer Erfahrungen bei der Recherche. Aufgrund der wachsenden Sichtbarkeit der »Death in Custody«-Kampagne kommt es immer häufiger vor, dass Aktivisten oder Journalistinnen, mitunter auch Angehörige, Todesfälle an uns herantragen, damit wir diese in unsere Dokumentation aufnehmen. Anfangs ist in solchen Situationen meist nur bekannt, dass eine Person durch einen Polizeieinsatz getötet wurde oder im Gefängnis ums Leben kam. Wir versuchen dann, Einzelheiten herauszufinden und zu klären, ob die getötete Person rassifiziert war. Teilweise ergibt sich dies aus der weiteren Berichterstattung, manchmal erfahren wir davon, weil Angehörige an die Öffentlichkeit gehen. Mitunter lässt sich die Frage nicht beantworten, oder es stellt sich heraus, dass die getötete Person nicht unter unsere Rassismusdefinition fällt.² Wenn es keine gesicherten Hinweise auf Rassismus gibt, dokumentieren wir die Todesfälle nicht.

Dieses selektive Vorgehen erscheint uns zunehmend fragwürdig. Das liegt insbesondere daran, dass wir immer mehr Gemeinsamkeiten zwischen den Getöteten, deren Geschichten wir dokumentieren, und jenen, bei denen wir das nicht tun, beobachten.

So finden sich beispielsweise folgende Fälle in unserer Dokumentation:

  • Oury Jalloh: Der 36jährige Geflüchtete aus Sierra-Leone wurde 2005 im Polizeirevier Dessau zuerst von Polizisten totgeschlagen und dann zur Vertuschung in einer Zelle des Reviers verbrannt.
  • Christy Schwundeck: Die 40jährige Nigerianerin wurde 2011 in Frankfurt am Main von der Polizei erschossen, als sie im Jobcenter ihr zustehende Leistungen einforderte.
  • Matiullah Jabarkhil: Der 19jährige Geflüchtete aus Afghanistan wurde 2018 in Fulda von der Polizei erschossen, nachdem er die Scheibe einer Bäckerei eingeworfen haben soll; zuvor hatte er dort nach Brot gefragt.
  • Ferhat Mayouf: Der 36jährige Algerier kam 2020 während eines Zellenbrandes in der Berliner JVA Moabit ums Leben. Dort saß er wegen Diebstahls in Untersuchungshaft. Er hatte minutenlang um Hilfe gerufen, anwesende Wärter hatten seine Zellentür jedoch nicht geöffnet.
  • Vitali Novacov: Der 45jährige Arbeiter aus Bulgarien wurde 2022 bei Königs Wusterhausen in Brandenburg von der Polizei mit Hilfe von Anwohnern erstickt; er soll dort zuvor auf einem Grundstück randaliert haben.

  • Die folgenden Todesfälle haben wir hingegen nicht erfasst:

  • Mario Bichtemann, obdachlos, kam 2002 im selben Polizeirevier Dessau ums Leben, in dem auch Oury Jalloh starb; als Todesursache wurde ein Schädelbasisbruch diagnostiziert.
  • Maria B. wurde 2020 im Alter von 33 Jahren in einem psychischen Ausnahmezustand in Berlin in ihrer Wohnung von der Polizei erschossen.
  • Ein 36jähriger, dessen Namen unbekannt ist, wurde im September 2022 bei einer Durchsuchung seiner Wohnung in Leipzig von der Polizei erschossen, nachdem er eines Ladendiebstahls in einem Supermarkt verdächtigt worden war.
  • Danny Oswald, der suchtkrank war, wurde im Juli 2023 im Alter von 39 Jahren in Berlin-Friedrichshain in einem psychischen Ausnahmezustand gewaltsam von der Polizei fixiert. Er starb noch am selben Tag im Krankenhaus an den Folgen des Polizeieinsatzes.

Eine Klassenfrage

Die beispielhafte Auflistung zeigt: Jene Menschen, die von der Polizei getötet werden oder in Gewahrsam ihr Leben verlieren, sind in aller Regel von Armut betroffen. Sie bestreiten ihren Lebensunterhalt mit Hilfe prekärer Jobs, durch Kleinkriminalität, mit Hilfe von Sozialleistungen oder indem sie illegalisierten Tätigkeiten nachgehen. Sie sind häufig in psychischen Krisen oder suchtkrank. Viele werden über das Aufenthaltsrecht ausgegrenzt, müssen in Lagern leben oder sind obdachlos. Ihnen wird der Zugang zu grundlegenden Gütern und grundlegender Versorgung verwehrt.

Auch bei den vier Todesfällen vom August 2022 zeigt sich diese Gemeinsamkeit: Zwangsräumung eines Straßenmusikers, Kriminalität im Rotlichtmilieu, verstörendes Verhalten in Folge psychischer Krisen. Menschen können aus unterschiedlichen Gründen in solche Lagen geraten. Offensichtlich sind Rassismus, Migration, Flucht und die damit verbundenen Ausschlüsse wichtige, aber eben nicht die einzigen Faktoren. Die überproportionale Betroffenheit von staatlicher Gewalt macht diese mit anderen Worten nicht zu einem alleinigen Problem rassifizierter Menschen.

Ergibt es dann überhaupt Sinn, entlang der Kategorie »Rassifizierung« eine Trennlinie einzuführen? Führt dies dazu, dass wir die Funktionsweise von tödlicher staatlicher Gewalt besser verstehen oder macht es im Gegenteil entscheidende Faktoren unsichtbar?

Aus heutiger Sicht erscheint uns die Trennung künstlich und wenig hilfreich. Der starke oder gar ausschließliche Fokus auf Rassismus trägt dazu bei, Gemeinsamkeiten zwischen rassifizierten und nicht rassifizierten Opfern von Polizeigewalt zu verdecken und erschwert eine breite Solidarisierung. Das drückt sich zum Beispiel darin aus, dass es für Opfer von Polizeigewalt, die nicht von Rassismus betroffen sind, kaum Anlaufstellen bzw. Unterstützungsangebote gibt, während in der BRD in den vergangenen Jahren zumindest ein kleines Netzwerk von Akteuren und Beratungsstellen entstanden ist, die sich »zuständig« fühlen, wenn eine rassifizierte Person von der Polizei getötet wurde. Diese werden vielfach mit kleineren Kundgebungen, Pressemitteilungen oder Veranstaltungen aktiv, um Öffentlichkeit herzustellen und Aufklärung zu verlangen. Das soll nicht heißen, dass es etwa zu viel Aufmerksamkeit für rassifizierte Opfer von Polizeigewalt gäbe. Im Gegenteil gilt weiterhin, dass institutioneller Rassismus von Behörden und Politik in der Regel kategorisch abgestritten und tödliche Polizeigewalt - unabhängig von der Identität der Betroffenen - von offizieller Seite verharmlost und vertuscht wird. Zugleich ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Namen nicht rassifizierter Opfer von Polizeigewalt in der breiten Öffentlichkeit noch häufiger unbekannt bleiben (siehe Todesfall in Oer-Erkenschwick) und dass ihre Angehörigen und Freundinnen noch geringere Aussichten auf Unterstützung durch zivilgesellschaftliche Initiativen und Aktivistinnen haben.

Das hat viel mit dem antirassistischen Fokus zu tun, der in den vergangenen Jahren bei Protesten und Kampagnen gegen Polizeigewalt dominierte: im Aktivismus gegen Racial Profiling, bei der Kritik an rassistischen Ermittlungen der Polizei im Kontext der Aufarbeitung des NSU-Komplexes, da diese immer wieder die Angehörigen der Ermordeten verdächtigt und kriminalisiert hatte, oder im Rahmen der weltweiten »Black Lives Matter«-Proteste nach der Ermordung von George Floyd, die im Frühsommer 2020 auch in der BRD Zehntausende auf die Straße brachten. In der Folge ist das Bewusstsein für Polizeigewalt gestiegen; zugleich hat sich aber die Vorstellung durchgesetzt, dass in erster Linie rassifizierte Personen durch die Polizei getötet würden und dass dafür Rassismus bzw. rassistische Zuschreibungen ausschlaggebend seien.

Dieses Bild ist folgenreich: Es entscheidet mit darüber, über welche Todesfälle überregional berichtet wird, welche Namen erinnert bzw. überhaupt öffentlich bekannt werden, welche Todesfälle Anteilnahme auslösen und welche achselzuckend hingenommen werden. Indem nur bestimmte Geschichten dokumentiert und erinnert werden, wird das einseitige Bild davon, was Polizeigewalt ausmacht und wen sie potentiell tötet, noch verstärkt.

Kein Diskriminierungsproblem

Rassismuszentrierte Analysen von Polizeigewalt laufen darüber hinaus Gefahr, Polizeigewalt fälschlich als Diskriminierungsproblem zu deuten. Wenn man davon ausgeht, dass der Grund für übermäßige Polizeigewalt in rassistischen Zuschreibungen liegt, liegt der Schluss nahe, dass man diesem Problem mit mehr »Selbstreflexion«, Antirassismustrainings oder einer diverseren Zusammensetzung der Polizei begegnen könne. Genau in diese Richtung gehen Maßnahmen, die von offizieller Seite ergriffen werden, um auf Proteste gegen Polizeigewalt zu reagieren. Auf die Spitze treibt das ein Leitfaden für »diskriminierungssensible Sprache« bei der Berliner Polizei. Diese kann zwar unverändert marginalisierte Menschen schikanieren, soll aber zugleich den eigenen Sprachgebrauch reflektieren und Selbstbezeichnungen Betroffener verwenden.

Diese symbolischen Maßnahmen lenken zugleich davon ab, dass es in erster Linie eine Klassenfrage ist, wer in den Fokus der Polizei gerät. Im Neoliberalismus werden immer größere Teile der Bevölkerung im Sinne kapitalistischer Verwertung überflüssig gemacht und Verarmung und Verelendung ausgesetzt. Gleichzeitig wird der Sozialstaat - als »weiches« Kontroll- und Disziplinierungsmittel - zurückgebaut. Um die »Überflüssigen« zu disziplinieren, benötigen die Staaten daher eine immer härtere Law-and-Order-Politik.³ Geflüchtete, Obdachlose, Drogennutzerinnen, Arbeitslose und Jugendliche aus der prekären Arbeiterklasse werden verstärkt von der Polizei überwacht und kriminalisiert. In größeren Städten geht diese Form der Polizeiarbeit vielfach mit Verdrängungsprozessen einher. Um Viertel aufzuwerten, erhält die Polizei den Auftrag, als »störend« wahrgenommene Gruppen von dort zu vertreiben. Die polizeiliche Disziplinierung der »Überflüssigen« - also derjenigen Menschen, die sich in der kapitalistischen Logik nicht verwerten lassen - hat außerdem eine internationale Dimension: Sie nimmt auch die Form von »Antimigrationsmaßnahmen« an, drückt sich also in der Aufrüstung der Grenzen, der Einrichtung geschlossener Lager, der polizeilichen Zusammenarbeit mit Drittstaaten zur Grenzsicherung oder der Durchführung von Abschiebungen aus, um unerwünschte Geflüchtete aus Europa fernzuhalten.

Potentiell tödliche Polizeigewalt richtet sich somit in erster Linie gegen die prekärsten Teile der globalen Arbeiterklasse. Dass die Betroffenen überdurchschnittlich häufig rassifiziert sind, liegt nicht an unveränderlichen rassistischen Zuschreibungen, sondern ist Ausdruck der bestehenden internationalen Arbeitsteilung. Neben Menschen aus dem globalen Süden oder Arbeitsmigrantinnen aus Süd- oder Osteuropa werden auch Menschen aus der nichtmigrantischen armen, lokalen Bevölkerung in Gewahrsam getötet. Letzteren haben wir bisher unsere Anteilnahme verweigert.

Verschwinden der Kapitalismuskritik

Den Fokus auf Rassismus und die untergeordnete Rolle von Eigentums- und Klassenverhältnissen in der aktuellen Auseinandersetzung mit Polizeigewalt, die auch in unserer Recherche zu erkennen sind, interpretieren wir auch als Effekt des politischen Kontexts, in dem wir und viele unserer Genossinnen aktiv geworden sind. Dieser ist gekennzeichnet durch das »allmähliche Verschwinden des Kapitalismus aus dem linken und linksradikalen Antirassismus« seit den 1980er Jahren,⁴ die Zersplitterung linker Organisationen zu Ein-Punkt-Bewegungen, die sich mit »Teilproblemen« befassen, ohne den gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang zu sehen und die fortschreitende Bedeutungslosigkeit von sich als sozialistisch oder kommunistisch verstehenden Gruppen und Organisationen infolge des globalen Niedergangs staatssozialistischer Versuche. Infolgedessen wurde der Kampf gegen Polizeigewalt in den vergangenen Jahrzehnten entweder nur als Kampf gegen politische Repression in den eigenen Reihen oder als Kampf gegen rassistische Polizeigewalt geführt.⁵

In Zukunft müsste es hingegen darum gehen, das Phänomen (tödlicher) Polizei- und Knastgewalt über den beschränkten Aktionsradius des »Antira-« oder »Autonomenspektrums« hinaus anzugehen. Nicht nur in dem Sinne, dass verschiedene Betroffenengruppen zusammenkommen und gemeinsam kämpfen, sondern auch mit dem Ziel, den Zusammenhang zwischen kapitalistischer Produktionsweise, der systematischen Produktion einer »Überschussbevölkerung« und deren polizeilicher Kontrolle deutlich zu machen. Aktuell beobachten wir sowohl in der BRD als auch international ein wachsendes Interesse daran, sich wieder eine materialistische Analyse von Rassismus (und Polizeigewalt) zu erarbeiten.⁶ An diese Diskussionen knüpfen wir an.

In Reaktion auf sich zuspitzende Krisen wird ein verschärfter Klassenkampf von oben betrieben. Massenhafte Verarmung und Verelendung, Migrationsbewegungen aus der zerstörten Peripherie in die kapitalistischen Zentren sind die Folge. Es ist davon auszugehen, dass die Repressionsapparate entsprechend aufrüsten und zunehmend mehr Menschen wegen Armutsfolgen von der Polizei angegriffen werden oder in den Gefängnissen landen. Nicht alle überleben den Gewahrsam. Um dem etwas entgegenzusetzen, wird es immer dringlicher, den Kampf gegen Polizeigewalt stärker mit einer breiten, antikapitalistischen Politik zu verbinden. Diesen Text verstehen wir als Einladung an andere Gruppen, sich mit unseren Beobachtungen auseinanderzusetzen, darüber ins Gespräch zu kommen und sich mit uns gemeinsam den »Blick aufs große Ganze« wieder zu erarbeiten.

Anmerkungen:

1 https://Taz.de/Polizist-erschiesst-Teenager/!5872147/
2 Der Recherche liegt eine weite Rassismusdefinition zugrunde, die innerhalb der Kampagne lange diskutiert wurde. Sie umfasst alle Menschen, die anhand von rassifizierten Merkmalen wie der Hautfarbe, Haarfarbe, religiöser Symbole, Sprache, Namen, Staatsangehörigkeiten oder des Aufenthaltsstatus als potentiell »kriminell«, »gefährlich« oder »illegal« markiert werden.
3 Vgl. Cedric Johnson: The Panthers Can't Save Us Now. Debating Left Politics and Black Lives Matter, New York 2022
4 Christian Frings: Vorwort. In: Eleonora Roldán Mendívil u. Bafta Sarbo (Hg.): Diversität der Ausbeutung. Zur Kritik des herrschenden Antirassismus, Berlin2022, S. 16
5 Vgl. Sonja John: Tod im Gefängnis. Wen kümmert's? In: engagée Journal (2021), Ausgabe 10. Special issue: Who Cares, S. 72-74; hier S. 74.
6 In der BRD zeigt das zum Beispiel am großen Interesse an dem Band »Diversität der Ausbeutung« (vgl. Anm. 4). International werden entsprechende Diskussionen auch unter dem Stichwort Abolitionismus geführt.

Accomponying text for researching deaths in custody

[as of 03/15/2021]

Within the campaign #DeathInCustodyDE, the research working group has been researching deaths of Black people, People of Color and other people affected by racism in custody and due to fatal police violence in Germany since 1990 since fall 2019. In the following, we explain how we proceeded with the research, which sources we refer to and how we define the most important terms. We developed the definitions gradually in the course of the research process and in confrontation with concrete deaths in collective discussions. It is a proposal for how to capture and represent deadly, racist state violence. With this text we want to make the basis of our research transparent and also justify why we decided not to include certain borderline cases in the research.

We assume that there are very many deaths in custody and detention situations that are not yet included in our chronicle. This is because the overall data situation is very poor. There is no nationwide record of deaths in custody. Where data is available, it does not distinguish the extent to which those killed were people affected by racism. For this reason, we decided to do this research: To show that there is a void here that makes it easy for authorities to cover up problems with racism.

Our initial hypothesis is that people affected by racism have a particularly high risk of dying in state "custody". This is supported by three arguments in particular: First, this group is generally more often affected by police measures - keyword racial profiling - and interactions with the police escalate more often, since officers are more likely to use violence against Black people, People of Color, refugees and migrants. Racist checks often result in people being arbitrarily taken to the police station, which in the worst case they never leave alive. Secondly, there are crimes that only people without a German passport can commit ("illegal entry", "illegal residence"). As well as the fact that people affected by racism are more often prosecuted by the criminal justice system and punished more severely, this results in this group having a higher risk of ending up in prison compared to the white majority society. Third, there are forms of imprisonment that only affect people without a German passport. As will be shown, our documentation includes many deaths in custody pending deportation. But there are, of course, overlaps with other power relations. Police fatalities, for example, very often result in the loss of life of people who are in a psychologically exceptional situation.

We look through these documentations, evaluate them according to our criteria, combine and expand them to some extent.

What the #DeathInCustodyDE Research-AG does beyond that to get a reliable data base:

  • Networking with initiatives that work to clarify individual deaths in custody and without whose work the names of many victims of racist state violence would have been long forgotten.
  • initiate parliamentary inquiries
  • additional, targeted media research

Definition of Black, PoC, "affected by racism"

We include all people in our research who are marked as "different" and thus potentially "criminal", "dangerous" or "illegal" due to racializing attributions. For our survey, what matters is not how the person would label themselves, but how the state and society classify them, as this is consequential for those affected. Relevant characteristics include skin color, hair color, clothing, and other perceptible and detectable characteristics such as religious symbols, language, names, nationalities, or residency status.

Definition of Detention

Our research is based on a broad understanding of detention or custody that goes well beyond the legal concept (detention in the sense of a measure by the police that deprives someone of their liberty). To fall within our definition of death in custody, the state apparatus of violence must have played a causal role in the death. Two perspectives must be distinguished:

Spatial: The death occurred in a place where the person was held against his or her will by order of the state, such as in jail, police custody, a closed psychiatric ward, or on an airplane during a deportation. Detention also means "custody." The institutions of the state and their officials have to take care of the physical and psychological well-being of the people they deprive of their freedom. If people do not survive custody situations, the state has failed to ensure their safety and is culpable.

Actor-based: Actors of the state's violent apparatus are responsible for death. This makes it possible to include police fatal shootings, deaths caused by the physical use of force by the police, or deaths in the immediate flight from the police. In such cases, a custodial situation is created by the police's actions creating a hopeless situation from which the subject cannot escape alive. The category "physical use of force by the police" includes not only beating and suffocation to death, but also cases of emetic torture.

The spatial and actor perspectives can also overlap when a person is killed or murdered in custody by the police (Oury Jalloh). In principle, we also include deaths for which private security services with police-like powers are responsible (Tonou-Mbobda).

Several borderline cases emerged during the research:

1) Armament

If, according to the information available to us, those killed were armed with a knife, we include these cases: First, in our view, police officer:s can be expected to be able to disarm the subjects without killing them. Second, the police's claim that there was a knife and that the use of firearms was in self-defense often turns out to be false or at least doubtful in retrospect (as in the case of Hussam Fadl, for example).

On the other hand, we leave aside cases in which, according to the information available to us, the person who was killed had a firearm himself, took hostages or otherwise deliberately put the lives of outside third parties in danger.

2) "Suicide"

In many deaths in custody or detention, the cause of death is given as "suicide". However, we assume that in a total institution (prison, police custody, closed psychiatric ward), which determines the whole life, there can be no free decision to end one's own life. Rather, the circumstances of imprisonment ensure that prisoners are systematically deprived of the will to live. That is why we record these cases as "deaths in custody." This is a finding of our comrade in the research group of the Death In Custody campaign; a finding that does not come from books, but from blood and tears in connection with the death of her incapacitated brother, who was denied care in the JVA Tegel and whom the institution let die in solitary isolation.

Another reason is that the authorities' statements are not to be trusted (see shooting). Since detention precludes outside observation or intervention, the state's agents of violence have the interpretive power over what happened. In the case of Oury Jalloh, officials also claimed that he had set himself on fire. In the meantime, however, we know through the persistent work of the Oury Jalloh Initiative that he was murdered and burned by police officers.

3) Camps

There is a great deal of overlap between large collective camps (so-called reception facilities and anchor centers) and prisons in particular: The entire daily routine is regimented, there is constant control and moderation by guard services. Theoretically, it is possible to leave the camps, but in reality the freedom of movement of the residents is severely restricted due to the secluded location and the strict residence obligation. Similar to police custody or imprisonment, guards and police officers have a high power of interpretation in conflict situations, and there is a lack of independent witnesses and external control.

We record deaths in camps when police or guards are involved in some way, such as in the course of a raid or deportation, or when there is a failure to render assistance. We do not record "suicides" and other deaths because otherwise the discriminatory power of "suicides" outside of camps but for similar motives (negative asylum decision, fear of deportation, lack of prospects) would be lost. On the subject of fatal consequences of the racist asylum system in the FRG, we refer to the excellent documentation of the Antirassistische Initiative.

From these considerations, the following categories of death in custody emerge:

A final remark: In the course of our research, we have occasionally encountered deaths that seem to us to require comment. This concerns among other things cases, in which the killed person

  • belonged to an organization whose political goals are not compatible with the anti-racist and anti-fascist claim of "Death in Custody" or
  • engaged in partnership or other forms of massive violence against uninvolved third parties.

However, the focus of our research is to make visible and scandalize racist state violence - regardless of whether those killed are sympathetic or politically close to us. For this reason, we have decided to include the individuals in the aforementioned cases in our documentation and commemoration. However, in order to make our considerations transparent, we include a short note below the commemorative texts for each of the deaths concerned.

Aims of the research

  • To make visible how frequently and continuously people affected by racism die in custody in Germany: Institutional racism kills in Germany too!
  • to remember those killed, to name their names, to tell their stories, so that the state narrative is not the only thing left - stop criminalizing victims of deadly state racism!
  • Expose patterns in deaths in custody, reveal typical circumstances and causes of death.
  • Build pressure on authorities to better record deaths in custody, especially showing the extent to which those affected were people affected by racism.

Suggested citation: Death in Custody Campaign Research Working Group, 2021, accompanying text on researching deaths in custody, available online at https://doku.deathincustody.info/recherche/